Betrachtungen eines Betroffenen

Am Anfang war … der Text. Der Zeitungsartikel, die Broschüre, der Bericht, die Urkunde. Die Angst vor dem leeren weißen Blatt kennen wir nicht, Sprachlosigkeit schon, oder, nach einem ganz textintensiven Tag, auch Wortfindungsstörungen, wie frustrierend! Meistens jedoch plagen wir uns mit der Frage: Wie sagt man das noch gleich im Deutschen? Wie drücke ich es am besten aus? Das Wort hat doch mehrere Konnotationen im Englischen, da schwingt doch ein ganzes Kulturgefühl im Spanischen mit … Assoziationen werden geweckt, Bilder entstehen im Inneren. Und dann ist da noch die Frage der Stilebene: Behördendeutsch versus Jugendsprache versus Fachsprache. Die Wahl der richtigen Stilebene mussten wir erst mühsam lernen. Muttersprachliche Kompetenz ausbilden, so nannten das unsere Dozenten.
Als eine Freundin von meinem Studienwunsch „Übersetzer“ erfuhr, sagte sie: „Da übersetzt Du ja nur, was ein Anderer gesagt hat“, sprich: ich mache nichts Eigenes. Oder doch? Das würde selbst dem Laien auffallen, dass es manchmal tausendundeine, naja, ich gebe zu, etwas übertrieben, aber meistens mehr als eine Übersetzungsmöglichkeit gibt. Ein Über-setzungsvergleich von Belletristik würde es offenbaren. Welche Übersetzung ist nun ange-messen, welche klingt gut, welche fällt mir ein und begeistert mich und Andere? Welche lässt den Text wirken wie ein Original, ruft die gleichen Emotionen hervor und übermittelt alle genannten Informationen?
Dann gibt es diese Tage, an denen man unentschlossen ist, gleich mehrere Übersetzungs-varianten zu Papier bringt, und, sofern es die Zeit erlaubt, mehr oder weniger schnell wieder verwirft. Manchmal gönne ich mir den Luxus, eine Nacht darüber zu schlafen und sehe am nächsten Tag klarer, weiß, wie ich formulieren will und soll. Dabei finde ich es wichtig, bei Literatur oder journalistischen Texten den Stil des Autors zu wahren und nur dann korrigierend einzugreifen, wenn man es im Deutschen anders formulieren muss, der Syntax wegen. „So frei wie möglich und so nah wie nötig“, hat es mal ein bekannter Übersetzer formuliert. So mancher Literaturübersetzer hat die Satzungetüme des Autors übernommen, so zum Beispiel die Übersetzerin (Elke Wehr) von „Corazon tan blanco“ (des Autors Javier Marías, im Deutschen „Mein Herz so weiß“). Dort erstreckt sich dann ein Satz, durch Kommas sinnvoll gegliedert, über mehrere Zeilen, schlimmstenfalls sogar über eine ganze Seite. Und das Buch wurde trotzdem im Deutschen ein Bestseller. Oder vielleicht gerade deswegen.
Schade nur, dass unsere Kopfarbeit, unser Ringen um die richtigen Worte, unser wohlfeiles Formulieren, unsere eloquenten Phrasen so wenig gewürdigt, so schlecht bezahlt und so wenig als kreative Leistung gesehen und oft nicht ausreichend honoriert werden. Dabei sind wir Sprach- und Kulturmittler, verfügen über ein breites Wissen der Ausgangs- und Zielkultur unserer sprachlich abgedeckten Länder, haben unsere Lese- und Schreibfähigkeit trainiert, arbeiten an unserem Stil und bilden uns fortwährend weiter. Und alles, damit Andere sprach-los bleiben können in einer Zielsprache, derer sie nicht mächtig sind. Damit wir als Sprachrohr fungieren und Distanzen und Differenzen überbrücken. Menschen verbinden und in Beziehung treten lassen. Die Menschheit kulturell bereichern (wie klein wäre unser Horizont ohne die Übersetzung alter Klassiker und neuer Werke?). Goethe, der seinerzeit den größten Wortschatz hatte, hat einmal gesagt: „So viele Sprachen Du sprichst, so oft bist Du Mensch.“ Ein Mensch, der eintaucht in eine andere Kultur und Welt, der sein Wissen und seinen Horizont erweitert und der hernach begeistert und beflügelt die Welt mit neuen Augen sieht. Bunter, schillernder, differenzierter, wissensgesättigter.
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